Donnerstag, 4. Februar 2016

Anriss eines Gedankens über das selfie



1
Menschen haben eins den Göttern voraus: Menschen schleppen ohne Mühe einen Schatten mit sich, Götter tun das nicht.
Ich habe in den letzten Jahren meinen eigenen Schatten bewusst geworfen (so nennt man das), das fotografisch dokumentiert. Man kann diese Porträts des geworfenen eigenen Schattens, wenn man so will, als eine Spielart des selfie ansehen. Ich sehe das eher als eine leicht metaphysische Übung gegen die Dummheit und den Gefühlsbankrott der von der Technik quasi restlos eroberten und fassadenhaft entleerten Zeitgenossen.
Schon die meisten Graffitis haben sich bald in der message erschöpft, der auch selfies fröhnen: „Es gibt mich. Hier bin ich.“ Selfies sind die feigeren, umweltfreundlicheren, interiorisierten Graffitis. Zugleich ist das selfie nur die lichte Seite der smartphone-Dokumentation von Massaker und Vergewaltigung.

2
Unser eigener Schatten ist ein natürlicher, dabei wie alles Natürliche unterschätzter, ignorierter, gefürchteter Teil von uns, unser unkündbarer Doppelgänger, Inbegriff der Zweifalt und Vielfalt, Fremdheit, Todesverfallenheit alles Körperlichen, Lebendigen.
Doch das Schattenreich, Reich der männlichen Schatten, ist die Umschreibung vom Totenreich. Im sonnenarmen Norden träumte man die Befreiung aus dem Zombietum als Erhellung, als zoroastrische Lichtung, als Aufklärung weiter.
Nach Süden knallt die Sonne aber. Da steht plötzlich Schatten für Leben, für Rettung. Jemanden „in den Schatten stellen“ bedeutet ihn kalt stellen, radieren. Spanisch ist der Schatten dagegen weiblich, „la sombra“. Im Sonnenreich wird daher das lebensbejahende menschliche Staunen als „sich Verschatten“, asombrarse geprägt.
Wer meint, Deutsch (und Griechisch) nur ließe sich philosophieren, versteht kein Deutsch oder Spanisch. Der behütende Hut, spanisch sombrero, meint einen Schattenspender.

3
Wahlspruch des alten Delphi, das gnoti seauton, „Erkenne dich selbst“, war ein weises Eingeständnis, dass der Mensch sich selbst fremd ist. Womöglich beförderte der Spruch auch die Illusion, dass das einmal anders werde.
Gegenüber krankhafter Fremdenfeindlichkeit gilt gewissermaßen als Vorschule, mit der eigenen Fremdheit als eigenem Schatten, über den zu springen eine tolle Utopie ist, mit Schatten überhaupt sich zu versöhnen. Gleichsam wie mit dem Tod. Pure, hilflose, überflüssige Selbstbehauptung eigener Identität, Einheit, Unsterblichkeit wie in gewöhnlichen Graffitis bzw. selfies sollten Ausnahme bleiben.

4
Es sind dies heute turbulente, grausame, dazwischen auch renaissancehafte Zeiten. Keiner kann genau sagen, in was wir gerade schliddern: In den Weltkrieg, in postmoderne Tyranneien und/oder einen neuartigen Faschismus, in ein chaotisches Alle-gegen-alle, in eine seltsame Revolution oder Restauration. Undefinierbare Zeiten sind apokalyptisch. Konquistadoren, Reformer, Hexenverfolger, Bauernführer schießen wie barocke Pilze aus den maroden Gesellschaftsböden.
Die meisten von uns erleben heute ihre Niederlage brutal und unterhaltsam zugleich, die Perspektive der besiegten, der verstummten Eingeborenschaft ist wiedergekehrt und hat sich ausgebreitet. Wie einst in amerikanischen Indianerkulturen, deren Gold um 1500 den Peinigern ihren neuen Petersdom finanzierte. Mit dem ihnen entwendeten Geld bezahlt eine schwindende Mittelklasse ihren eigenen Untergang selbst – wie die Juden das Ticket für den Viehwagon ins Lager.

5
Wir merken das nur langsam: Die Produktionen von Silicon Valley im Verbund mit dem Pentagon (erlesene Hörgeräte, smartphones, tablets usw. usw.) sind, neben bekannteren und unbekannten digitalen Waffensystemen, das, was vor 500 Jahren in den Händen weißer Konquistadoren die Glasperlen aus Murano (plus Alkohol) für die Indianer waren. Der Beweis der Inkommensurabilität des zeitgenössisch Imperialen bestätigt sich auch geldlich: 1% der Weltbevölkerung besitzt heute 99% der Welt.

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Beweis und Symptom der integrierten, gehirngewaschenen, eben auch kooperativ und friedlich gelingenden End- (nicht Ent-)kolonisation, beides ist das selfie. Wie die glänzenden Muranoglaskugeln erlaubt es die eitle, schmerzlindernde Selbsttäuschung über die eigene schwindende Existenzbasis, über die sich vollziehende Nichtexistenz, ein stets notwendiger Schritt bei totalem Selbstverlust und -aufgabe.
Gleichzeitig ist das „device“ zum letzten Existenzbeweis einer jeden Person geworden, die theoretisch schon im Unerheblichen verreckte.
Und sie werden Hymnen an den Tod und an die Sonne singen, als ob beide das gleiche wären.  

7
Versöhnung mit eigenem und fremdem Schatten ist der kleinste, der einfachste Schritt in die richtige Richtung.
In diesem auf- und umgewerteten Schattenreich finden und erfinden sich vielleicht heute bewusstlose Indianer neu.