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Menschen haben
eins den Göttern voraus: Menschen schleppen ohne Mühe einen Schatten mit sich,
Götter tun das nicht.
Ich habe in
den letzten Jahren meinen eigenen Schatten bewusst geworfen (so nennt man das),
das fotografisch dokumentiert. Man kann diese Porträts des geworfenen eigenen
Schattens, wenn man so will, als eine Spielart des selfie ansehen. Ich sehe das
eher als eine leicht metaphysische Übung gegen die Dummheit und den Gefühlsbankrott der von der Technik quasi restlos eroberten
und fassadenhaft entleerten Zeitgenossen.
Schon die
meisten Graffitis haben sich bald in der message erschöpft, der auch selfies fröhnen: „Es gibt mich. Hier bin ich.“
Selfies sind die feigeren, umweltfreundlicheren, interiorisierten Graffitis.
Zugleich ist das selfie nur die lichte Seite der smartphone-Dokumentation von
Massaker und Vergewaltigung.
2
Unser eigener
Schatten ist ein natürlicher, dabei wie alles Natürliche unterschätzter, ignorierter,
gefürchteter Teil von uns, unser unkündbarer Doppelgänger, Inbegriff der Zweifalt
und Vielfalt, Fremdheit, Todesverfallenheit alles Körperlichen, Lebendigen.
Doch das Schattenreich,
Reich der männlichen Schatten, ist die Umschreibung vom Totenreich. Im sonnenarmen
Norden träumte man die Befreiung aus dem Zombietum als Erhellung, als
zoroastrische Lichtung, als Aufklärung weiter.
Nach Süden knallt
die Sonne aber. Da steht plötzlich Schatten für Leben, für Rettung. Jemanden
„in den Schatten stellen“ bedeutet ihn kalt stellen, radieren. Spanisch ist der
Schatten dagegen weiblich, „la sombra“. Im Sonnenreich wird daher das
lebensbejahende menschliche Staunen als „sich Verschatten“, asombrarse geprägt.
Wer meint,
Deutsch (und Griechisch) nur ließe sich philosophieren, versteht kein Deutsch
oder Spanisch. Der behütende Hut, spanisch sombrero, meint einen
Schattenspender.
3
Wahlspruch
des alten Delphi, das gnoti seauton, „Erkenne dich selbst“, war ein weises
Eingeständnis, dass der Mensch sich selbst fremd ist. Womöglich beförderte der
Spruch auch die Illusion, dass das einmal anders werde.
Gegenüber krankhafter
Fremdenfeindlichkeit gilt gewissermaßen als Vorschule, mit der eigenen Fremdheit
als eigenem Schatten, über den zu springen eine tolle Utopie ist, mit Schatten
überhaupt sich zu versöhnen. Gleichsam wie mit
dem Tod. Pure, hilflose, überflüssige
Selbstbehauptung eigener Identität, Einheit, Unsterblichkeit wie in
gewöhnlichen Graffitis bzw. selfies
sollten Ausnahme bleiben.
4
Es sind dies
heute turbulente, grausame, dazwischen auch renaissancehafte Zeiten. Keiner
kann genau sagen, in was wir gerade schliddern: In den Weltkrieg, in postmoderne
Tyranneien und/oder einen neuartigen Faschismus, in ein chaotisches Alle-gegen-alle, in eine seltsame Revolution oder Restauration. Undefinierbare Zeiten sind
apokalyptisch. Konquistadoren, Reformer, Hexenverfolger, Bauernführer schießen wie
barocke Pilze aus den maroden Gesellschaftsböden.
Die meisten von
uns erleben heute ihre Niederlage brutal und unterhaltsam zugleich, die
Perspektive der besiegten, der verstummten Eingeborenschaft ist wiedergekehrt
und hat sich ausgebreitet. Wie einst in amerikanischen Indianerkulturen, deren
Gold um 1500 den Peinigern ihren neuen Petersdom finanzierte. Mit dem ihnen
entwendeten Geld bezahlt eine schwindende Mittelklasse ihren eigenen Untergang
selbst – wie die Juden das Ticket für den Viehwagon ins Lager.
5
Wir merken das
nur langsam: Die Produktionen von Silicon Valley im Verbund mit dem Pentagon
(erlesene Hörgeräte, smartphones, tablets usw. usw.) sind, neben bekannteren und
unbekannten digitalen Waffensystemen, das, was vor 500 Jahren in den Händen
weißer Konquistadoren die Glasperlen aus Murano (plus Alkohol) für die Indianer
waren. Der Beweis der Inkommensurabilität des zeitgenössisch Imperialen bestätigt
sich auch geldlich: 1% der Weltbevölkerung besitzt heute 99% der Welt.
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Beweis und
Symptom der integrierten, gehirngewaschenen, eben auch kooperativ und friedlich
gelingenden End- (nicht Ent-)kolonisation, beides ist das selfie. Wie die glänzenden
Muranoglaskugeln erlaubt es die eitle, schmerzlindernde Selbsttäuschung über
die eigene schwindende Existenzbasis, über die sich vollziehende Nichtexistenz,
ein stets notwendiger Schritt bei totalem Selbstverlust und -aufgabe.
Gleichzeitig
ist das „device“ zum letzten Existenzbeweis einer jeden Person geworden, die
theoretisch schon im Unerheblichen verreckte.
Und sie werden
Hymnen an den Tod und an die Sonne singen, als ob beide das gleiche wären.
7
Versöhnung
mit eigenem und fremdem Schatten ist der kleinste, der einfachste Schritt in
die richtige Richtung.
In diesem auf-
und umgewerteten Schattenreich finden und erfinden sich vielleicht heute
bewusstlose Indianer neu.